Ein Plädoyer für die aktive Gestaltung des digitalen Wandels und seiner gesellschaftlichen Folgen

Eine neue Kultur hat in deutschen Unternehmen Einzug gefunden: Vielerorts lassen sich CEOs duzen, die Krawatte ist so gut wie verschwunden und die Kleiderordnung ist kreativ leger. Diese Lockerheit im Umgang miteinander ist erfreulich. Sie steht für eine neue Ära: Dank exponentieller technologischer Entwicklung und Globalisierung sind den Möglichkeiten, neue Produkte, Geschäftsmodelle und Märkte zu schaffen so gut wie keine Grenzen mehr gesetzt.

Wir leben in der Tat in einer phantastischen und spannenden Zeit. Jeff Bezos sagte einmal: „Wir werden diesen Planeten verlassen müssen, und wir werden ihn verlassen – und dann werden wir diesen Planeten besser gemacht haben.“ Die Vision des Amazon Gründers ist omnipräsent. Vom Maschinenbauer über die Automobilindustrie bis hin zur Dienstleistungsbranche fragen sich die Leader unserer Unternehmen, wie sie Künstliche Intelligenz in ihre Produkte und Dienstleistungen integrieren können. Deren Perfektion wird unsere Umgebung intelligenter und unser Leben noch angenehmer machen. So beeindruckend manche Innovationen auch sein mögen, die durch sie verursachten Umwälzungen fallen drastisch aus.

  • Wann fangen wir an, über diese Folgen zu sprechen?
  • Wie ändert sich unser Wertegefüge?
  • Wie das soziale und gesellschaftliche Zusammenleben?
  • Wir können wir diesen Wandel aktiv gestalten?

Die Nerds in den Kontrollräumen von Google und Facebook haben geschafft, was keine Revolution je erreichen konnte. Das in der Feudalgesellschaft dem Adel vorbehaltene Privileg, ‚einzigartig‘ zu sein, ist demokratisiert. Wir alle sind ‚dank‘ der über uns existierenden Daten unverwechselbar. Doch die Einzigartigkeit hat ihren Preis: Wo Versicherungstarife aufgrund unserer Lebensgewohnheiten errechnet werden, ist schnell das Gleichheitsprinzip bedroht. Und damit unser Gefühl für soziale Gerechtigkeit.

Selbiges gilt für den digitalen Plattform-Turbokapitalismus, der die alte kapitalistische Logik des „the winner takes it all“ beeindruckend aktualisiert. Wer den Markt einmal beherrscht, hat dank der bereits erworbenen Daten alle potentiellen Konkurrenten bereits weit hinter sich gelassen. Dieses Phänomen bedroht unseren Sinn für Chancengleichheit und Fairness.

Ebenso unübersehbar sind die Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt: Viele Jobs werden überflüssig, quer durch alle Branchen und sozialen Schichten. Es wird den Lagerarbeiter ebenso treffen wie den Anwalt oder Radiologen. Gleichzeitig bringt die Digitalisierung neue Erfolgstypen hervor: Das superintelligente, abstrakt denkende KI-Talent einerseits, das die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine managen wird. Den feinfühligen, empathischen und sozial kompetenten Menschen andererseits, der diejenigen Jobs übernimmt, die Maschinen weniger gut erledigen werden. Alle anderen gucken in die Röhre.

Diktatur der Daten, digitaler Turbokapitalismus und Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes: Es ist kein Wunder, wenn 54% der Deutschen momentan einer Umfrage des Deutschen Instituts für Sicherheit und Vertrauen im Internet (DISVI) zufolge mehr Risiken im digitalen Wandel sehen. Doch welche Chancen eröffnen sich gleichzeitig?

Die Digitalisierung bietet mannigfaltige Chancen auf eine freiere, fairere und ökologischere Welt: Märkte werden transparenter und global vernetzte Konsumenten mächtiger. Tumbe Tätigkeiten am Fließband sind von gestern. Digitale Produkte oder Dienstleistungen machen die Welt ökologischer. Wollen wir diese Chancen klug nutzen, stellen sich vorrangig folgende Aufgaben:

  1. Die Sicherstellung des freien Wettbewerbs
  2. Der Schutz privater Daten
  3. Ein gemeinsames Wertefundament

Die unsichtbare Hand des Marktes sorgt eben nicht per se für eine faire Verteilung von Ressourcen, Gütern und Wissen auf der Welt. Es braucht Maßnahmen, die den Markt zu mehr Verlässlichkeit und Fairness treiben, eine Ordnungspolitik, die Monopole verhindert und schließlich Möglichkeiten eines sozialen Ausgleichs, z. B. durch ein progressives Steuersystem. Deren Durchsetzung müsste in einer globalen und digitalen Welt von einer übernationalen Organisation gesichert sein. Hierzu bräuchte es theoretisch eine Weltregierung. Solange es diese nicht gibt, könnten Organisationen wie die EU, die UNO oder die WHO diese Rolle künftig stärker übernehmen. Warum nicht globale digitale Kartellgesetze oder internationalen Datenschutz forcieren, oder allgemeingültige ethische Regeln für das Agieren Künstlicher Intelligenz?

Wir dürfen dem Wandel nicht bloß als Zuschauer beiwohnen. Wir dürfen Philanthropie nicht einigen Superreichen wie Bill Gates oder Marc Zuckerberg überlassen. Wie müssen anfangen, unsere Geschicke mehr in die eigene Hand zu nehmen. Wir können unseren Kindern heute schon die Kernkompetenzen von morgen vermitteln: logisches Denken und Herzensbildung. Wir können aufklärerische und humanistische Werte auch in einer globalen und zunehmend digitalen Welt verteidigen. Wir sollten dafür Sorge tragen, das Bewusstsein für den gemeinsamen Belang nicht zu verlieren – und mit ihm den sozialen Zusammenhalt. Hiermit lässt sich im digitalen Zeitalter dort anfangen, wo die große weite Welt auch morgen noch beginnen wird: Vor unserer eigenen Haustür, im HIER und JETZT.

Bild © pixabay

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