Doomscrolling – Negatives bis zur Verdammnis

Mit dem furchtbaren Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sind einmal mehr menschliches Leid, Terror und Verhängnis in unseren Fokus gerückt. Wir scrollen uns bis zum Abwinken durch die negativen Schlagzeilen unseres Handys. Wir kommen nicht los vom Fluss schlechter Nachrichten. Warum bloß tun wir uns das an? Welche Folgen hat das für unsere mentale Gesundheit? Was sind Alternativen zum Konsum schlechter Nachrichten, bis der Arzt kommt?

Blättern bis zur Verdammnis

„Doomscrolling“ bezeichnet dieses beinahe schon zwanghafte Verhalten, zu Deutsch „Verhängnisblättern“. Wir scrollen uns durch die Bad News bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. In der Corona-Krise können wir nicht genug bekommen von aktuellen Inzidenzzahlen und weltweiten Schreckensszenarien. Im Ukraine-Krieg läuft bei vielen auf dem Bildschirm nebenher der Newsticker, um uns mit den aktuellen Horrormeldungen zu versorgen.

Unser Gehirn wird zum negativen Perpetuum mobile

Doch warum tun wir das? Warum füttern wir uns freiwillig mit mehr und mehr schlechten Nachrichten? Die Erklärung hierfür liegt in der Funktionsweise unseres Gehirns. Wir nehmen negative Nachrichten schneller auf als positive. Unser Stammhirn, das eine direkte Verbindung zum vegetativen Nervensystem hat, fokussiert sich auf die negative Abweichung. Das automatische System scannt unentwegt unsere Umgebung nach möglichen Gefahren. Dieser Mechanismus stammt noch aus der Steinzeit, wo eine verpasste negative Information potentiell das Letzte sein konnte, was wir überhaupt wahrnahmen.

Was damals unserem Überleben diente, steht uns heute oftmals im Wege. Zumal im digitalen Zeitalter die Algorithmen der Suchportale, sozialen Netzwerke oder Medienseiten gekonnt dafür sorgen, dass wir immer mehr Nachschub von zuvor gesuchten – häufig negativen – Informationen bekommen, die dann auch noch in Echtzeit verfügbar sind. So wird die Negativspirale zum Perpetuum Mobile. 

Sich selbst verstärkende Negativität

Wir kennen diesen Negativitätsbias vom Umgang mit anderen Menschen. Hat einmal jemand etwas Negatives gesagt oder getan, uns verletzt oder grob enttäuscht, sind wir geneigt, diesem Menschen nur noch negative Eigenschaften zuzuschreiben. Das tun wir solange höchst gekonnt, bis wir selbst der festen Überzeugung sind, dass dieser Mensch tatsächlich etwas im Schilde führt oder von Natur aus böse ist.

In der Timeline der Sozialen Medien sorgt der Negativitätsbias paradoxerweise für das Gegenteil dessen, was wir eigentlich suchen: Wir suchen nach Informationen, die uns beruhigen und schützen sollen, uns in Wahrheit aber beunruhigen. So lügt sich unser Gehirn selbst in die Tasche. Angst, Unsicherheit und Zweifel sind die Folgen. Oder eben eine Spirale aus negativen Gefühlen, die nicht selten in Depressionen endet.

Raus aus dem Zwang!

Was ist dagegen zu tun?

Erstens, in Krisenzeiten sollten wir uns auf das fokussieren, was wir tatsächlich verändern können. Bezogen auf den Krieg in der Ukraine heißt das: Wenn wir auch nicht aktiv ins Geschehen eingreifen können oder wollen (Wer von uns macht sich zum Kämpfen auf in die Ukraine?), so können wir dennoch etwas tun. Ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, Spenden sammeln oder Hilfsgüter-Transporte organisieren. Agieren ist allemal besser, als tatenlos schlechte Nachrichten zu konsumieren.

Zweitens, elektronische Geräte kann man abschalten. Legen wir also ganz bewusst eine mediale Pause ein oder definieren wir vorher Zeitrahmen für das Konsumieren von (schlechten) Nachrichten. Eine digitale Detox bewirkt Wunder.

Drittens, suchen wir stattdessen lieber das Gespräch und den Austausch mit echten Menschen, um zu verarbeiten, was uns bewegt. Positive Emotionen wie Wärme und Mitgefühl benötigen den direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Das ist für unsere mentale Gesundheit definitiv besser, als sich allein im stillen Kämmerchen ins Verderben zu scrollen!

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Sicherheit in total unsicheren Zeiten?

Eine Pandemie, die niemand vorhergesehen hatte, eine Flutkatastrophe, deren Ausmaß apokalyptisch ist, Waldbrände von verheerender Gewalt… was kommt als Nächstes? In der Bibel kommen bekanntlich nach der Pest die Sintflut und danach die Heuschreckenplage! Worauf uns also vorbereiten? Wie mit solch drastischen Veränderungen umgehen? Wo Sicherheit finden in höchst unsicheren Zeiten?

Orientierung im Chaos

Es scheint die Quadratur des Kreises zu sein, besonders für alle Leader und Führungskräfte unter uns. Wir müssen Antworten auf Fragen geben, die momentan nicht zu beantworten sind. Wir müssen Prozesse steuern, deren Ziel wir zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich kennen können. Wir müssen planen, ohne Planungssicherheit zu haben. Und bei alldem sollen wir Sicherheit vermitteln, ohne selbst Sicherheit zu haben!

Lehren aus der Historie

Im August war ich in Florenz unterwegs und dort hatte ein Taxifahrer auf seinen Wagen den Spruch geschrieben: „Wir haben die Pest überlebt, wir werden auch Corona überleben.“ Ich musste schmunzeln. Zweckoptimismus in einer Stadt, die zu Recht als die Wiege der neuzeitlichen Menschenwürde gilt. Hoppla, Menschenwürde? Da war doch etwas!

Auch die Renaissance war ein Zeitalter dramatischer Veränderungen. Die Menschen wandten sich nach langen Jahrhunderten neuen Horizonten zu. Kontinente wurden entdeckt, das ptolemäische Weltbild geriet ins Wanken, der Buchdruck wurde erfunden, die Lehrmeinung der katholischen Kirche stand plötzlich in Frage und vor allem besannen sich die Menschen wieder auf die eigenen Stärken, anstatt sich ihre Lebensführung diktieren zu lassen.

Pico della Mirandola schreibt in seiner Schrift Über die Würde des Menschen (1486) Gott habe den Menschen in die Mitte der Welt gestellt, ohne festen Wohnsitz, auf dass er sich seinen Platz selbst bestimme: „Du sollst dir deine Natur ohne jede Einschränkung, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.“ Anders als die Tiere, hätte der Mensch keinen festen Platz in der Natur. Allein der Mensch sei frei.

Der Umgang mit Veränderungen

Freiheit und Selbstbestimmung? Sind dies nicht jene zentralen Werte, die auch heute noch in jeder zweiten Keynote zur Persönlichkeitsentwicklung vorkommen? Doch wie können wir Freiheit und Selbstbestimmung erlangen in einer Welt, die dem permanenten Wandel unterworfen ist? Wie können und sollen uns diese Werte beim Umgang mit Veränderungen, mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität unterstützen?

Wenn wir uns mit drastischen Veränderungen konfrontiert sehen, dann kommt es vor allem darauf an, wie wir damit umgehen. Oder in den Worten des Stoikers Epiktet: „Nicht die Verhältnisse an sich sind schwierig, sondern unsere Meinung und unsere Urteile über die Verhältnisse.“ In der bewussten Wahl des Umgangs mit den Verhältnissen liegt unsere Freiheit, Selbstbestimmung und damit unsere Menschenwürde. Diese in ihrer schlichten Formulierung anmutige Erkenntnis ist so einfach wie gleichzeitig verdammt schwer umzusetzen, gerade wenn Krisen über uns hinwegschwappen!

Die Kehrseite der Digitalisierung

Beim Entwickeln von heiterer Gelassenheit steht uns heute ausgerechnet jene Technologie im Wege, die eigentlich verspricht, alles einfacher zu machen. Denn seit der Einführung des Smartphones sitzt die Menschheit einem neuen, modernen Mythos auf, dessen Narrativ so lauten könnte: Und es begab sich, dass Steve Jobs diese Wundermaschine einführte, die zum digitalen göttlichen Zeigefinger für die Menschheit wurde. Fortan waren die Menschen allmächtig, hatten in Echtzeit das Weltwissen zu Hand und konnten von überall aus ihre Geschicke und Geschäfte selbständig lenken, Prozesse überwachen, Ideen entwickeln oder neue Partner finden…

Doch diesem Gefühl der digitalen Allmacht steht im „richtigen“ Leben ein Gefühl der analogen Ohnmacht entgegen. Denn im „richtigen“ Leben haben wir es mit Kindern zu tun, die nicht gehorchen, mit Partnern, die unsere Erwartungen nicht erfüllen, mit Mitarbeitern, die in der VUKA-Welt überfordert sind, mit Kollegen, die nicht tun, was sie sollen, mit Chefs, die alles vorgeben und mit Kunden, die ungeduldig und verwöhnt sind. Mit anderen Worten, mit Dingen, die wir genauso wenig kontrollieren können wie Naturkatastrophen oder Viren!

Und schon tritt die Diskrepanz zur vermeintlichen digitalen Allmacht eklatant zu Tage, dieses Spannungsfeld droht uns zu zerreißen. Darüber hinaus übersehen wir in der schönen neuen Welt der digitalen gratis Dienstleistungen, dass wir fremdbestimmt werden. Das Smartphone hat sich zum digitalen Schnuller für die meisten von uns entwickelt, nach dem wir unbewusst greifen, wenn wir nicht weiter wissen, weil die Dinge anders kommen als gedacht oder unsere lieben Mitmenschen so „dreist“ sind, unsere Erwartungen nicht zu erfüllen.

Unser Menschsein ist gefragt

Wenn es um den Umgang mit Veränderungen, mit unvorhergesehenen Situationen, mit unerwarteten Entwicklungen oder einfach mit Überraschungen geht, sind wir als Menschen gefragt. In solchen Situationen hilft uns nicht weiter, was wir HABEN oder DARSTELLEN, sondern ausschließlich das, was wir SIND. Oder in den Worten Schopenhauers: „Was einer an sich selber hat, ist zu seinem Lebensglücke das Wesentliche.“ Es kommt also auf unseren Charakter und unsere Persönlichkeit an, die im Idealfall von einer produktiven und lebensbejahenden Einstellung zeugen, die sich glaubhaft in unserem Umgang und unserer Kommunikation mit anderen ausdrückt.

Mentale Stärke und Einstellung lassen sich nicht durch Surfen im Netz oder Abhängen in den sozialen Medien bilden. Sondern in Zeiten der Achtsamkeit, des Fokus und der Reflexion. Für uns Leader heißt das, wir müssen im digitalen Zeitalter mehr denn je mit unserem innersten Kern, mit unserer Intuition in Verbindung sein, wenn wir in kritischen Situationen ruhig, besonnen und mit situativer Intelligenz agieren wollen. Dann gelingt es uns, auch in höchst unsicheren Zeiten Sicherheit auszustrahlen. Wir entfalten natürliche Autorität und werden zum Vorbild, dem Menschen aus einer inneren Motivation heraus folgen, weil wir Menschenwürde verkörpern, so wie der David des Michelangelo.

Was bleibt vom Corona-Jahr 2020?

Ein turbulentes und intensives Jahr 2020 neigt sich dem Ende entgegen. Ein Jahr mit vielen Ups und Downs. Ein Jahr, das vielen von uns in besonderer Erinnerung bleiben wird. Was davon bleibt? Was kommt? Welche Erfahrungen nehmen wir mit in unsere Zukunft?

Die Corona-Krise ist eine Tiefenkrise

Diese Krise ist anders, tiefgreifender, umfassender als alle vorangegangenen Krisen. Der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Kommunismus? Sie stellten einen epochalen Umbruch dar. Der Kalte Krieg mochte zu Ende sein, doch im Alltag der meisten Menschen in der westlichen Hemisphäre änderte sich nicht viel. Die Terroranschläge vom 11. September und der Krieg gegen den Terrorismus? Grausam in der medialen Gegenwärtigkeit und eine subtile Bedrohung, die doch irgendwie abstrakt war. Die Finanzkrise? Abstoßend die Gier einiger Investmentbanker, doch irgendwie eine übergeordnete Systemkrise.

Ganz anders Corona. Wir haben es mit einer Tiefenkrise zu tun, die alle unsere Lebensbereiche berührt, gesellschaftlich, wirtschaftlich, sozial. Jeder von uns ist persönlich betroffen. Hygiene- und Abstandsregeln, Einschränkungen, Isolation, Lockdown, Homeoffice oder sogar häusliche Quarantäne – es gibt niemanden, der nicht mit den Folgen von Corona umgehen müsste. Hinzu kommt ein diffuses Gefühl der Unsicherheit. Nichts ist mehr planbar. Und die Bilder aus den Intensivstationen erinnern uns an unsere eigene Sterblichkeit…

Unsere Anpassungsfähigkeit ist gefragt

Erinnern wir uns an die alte, vor-Corona Welt. Diese Gefühle kannten wir nicht. In einer effizienzgetriebenen, auf ewiges Wachstum ausgerichteten Wirtschaft griff ein Rädchen ins andere. Das System lief wie geschmiert, weltweit. Wirksamkeit bestimmte unser Leben bis hinein ins Private. Alles war getaktet. Und dann kam die Natur in Form eines Virus und zog den Stecker…

Seither tun wir das, was wir Menschen besonders gut können. Wir passen uns an. Maske tragen im öffentlichen Raum, Verzicht auf unnötige Reisen und Feiern, Rückzug ins Private, Homing und Cocooning als neues Biedermeier. Meetings via Zoom, nebenher die Kinder beim Homeschooling und jetzt auch noch virtuelle Weihnachtsfeiern… Alles ist entschleunigt. Und plötzlich kommen wir zur Ruhe und fragen uns: Was soll das alles?

Sinn finden in der Krise

Corona hat uns dermaßen aus der Spur geworfen, dass neue Möglichkeitsfenster entstehen. Diese Tiefenkrise trifft so sehr ins Mark, dass wir den Ruf nicht länger überhören können: Stellt euch in Frage! Verändert euch!

Schon länger haben wir gespürt, dass unsere Art zu leben fragwürdig ist. Wir haben diesen Planeten nur geborgt von unseren Kindern und Enkeln. Doch lange lebten wir so, als stünden uns Trauben aus Südafrika im Supermarkt das ganze Jahr über zu. Oder der Flug für 9,99 € mit Ryanair nach Bologna. Nun zwingt uns das Virus dazu, weniger mobil zu sein und sich auf das eigene Umfeld zu beschränken. Auf die Globalisierung folgt die Glokalisierung. Wir entdecken die Schönheit des Rheintals neu oder stellen verwundert fest, dass Fahrradfahren rund um den Bodensee genauso glücklich machen kann wie Planschen im türkisblauen Wasser der Karibik. Verzicht muss also nicht zwingend weh tun. Seinsziele können ebenso glücklich machen wie Haben, Raffen und Prassen.

Eine neues Paradigma für Wirtschaft und Gesellschaft

Wird diese Erkenntnis auch unser Konsumverhalten beeinflussen? Corona hat der globalen Wirtschaft mit ihren weltweiten Just-in-time-Lieferketten ihre Verwundbarkeit klar gemacht. Das System war ohne Frage effizient, effektiv ist es nicht. In Zukunft wird weniger mehr sein, oder lokaler, oder nachhaltiger! Komplexe Systeme wie zum Beispiel Ökosysteme in der Natur sind nicht wirklich effizient, aber in ihrem Funktionieren wesentlich stabiler, weil sie auf Veränderungen besser reagieren. Eine Blaupause für uns Menschen – die wir Teil der Natur sind – für unser Zusammenwirken in Organisationen, Unternehmen und Gesellschaften der Zukunft?

Das System der Arbeit ist dank Corona flexibler geworden. Und damit hat das Virus geschafft, was sämtliche New Work Konferenzen oder Kick-offs zur Agilität nicht geschafft haben! Viele Führungskräfte stellten überrascht fest, dass ihre Mitarbeiter tatsächlich im Homeoffice arbeiteten. Ergebnisse wurden erzielt, weil es fokussierter zuging. In Zoom-Meetings wird weniger gelabert, weil das eigene Ego schlechter durchs Internet flutscht. So wurde Vertrauen vertieft, das uns auch in Zukunft stärken könnte. Selbstsucht gepaart mit Kontrollwahn ist ein Paradigma der alten Welt. Die Zukunft gehört Vertrauen und Freiheit. Und dem Paradigma der Flexicurity, die Flexibiliät mit Sicherheit vereint. Dafür müssen wir alte Vorstellungen loslassen, mental großzügig sein und unser Ego parken können.

Mensch und Technologie in einer ausgewogenen Balance

Technologie hat uns in dieser Krise oft genug den Hintern gerettet. Leistungsstarke Hard- und Software ist die Voraussetzung für dezentrale Organisation und Digitalisierung. Und gleichzeitig werden uns die Grenzen der Technologie vor Augen geführt. Knifflige Verhandlungen gelingen bessern, wenn wir uns persönlich gegenübersitzen. Der eine Tag pro Woche im Büro mit Kollegen, dem Chef oder dem eigenen Team ist Balsam für unsere geschundene Homeoffice-Seele. Zoom verfügt über keine Spiegelneuronen und Menschliches bleibt allzu oft auf der Strecke.

Überhaupt sind es eher analoge Technologien, die uns vor Corona retten werden: Abstand halten, Distanz wahren, Hände waschen. Klassische wissenschaftliche Forschung und deren Ergebnisse schützt uns besser vor dem Virus als die Corona-App. So findet das Verhältnis zwischen Menschen und Technologie zu einer neuen, ausgewogeneren Balance. Eine Erkenntnis, die uns zombiehaft mit dem Smartphone verwachsenen Mutanten nur gut tun kann: Wir sind nicht unser Handy! Unsere Wünsche, Bedürfnisse und unsere Zufriedenheit sind nicht Google, Facebook oder Amazon.

Innere Stärkung der Gesellschaft

Und schließlich hat unser Gemeinwesen eine innere Stärkung erfahren. Im öffentlichen Raum werden Meinungen kontrovers miteinander diskutiert, um verschiedene Interessen unter einen Hut zu bringen und die für alle bestmögliche Lösung zu finden. Das macht Demokratie aus und funktioniert trotz aller Kritik an „der Politik“ erstaunlich gut. Einer der ergreifendsten Momente moderne Zivilcourage war für mich der Ordner bei einer Demonstration in Hannover, der seine Tätigkeit niederlegte, als Jana aus Kassel sich auf der Bühne mit Sophie Scholl verglich. Sein Kommentar: „Für so etwas stehe ich nicht länger zur Verfügung.“ Die Rednerin verließ heulend die Bühne. So werden historisch unkorrekte Vergleiche entlarvt, Lügner demaskiert oder politische Rattenfänger ausgehebelt. Und die innere Stärkung unserer Demokratie ist das beste Mittel gegen Fake News und Verschwörungstheorien! Wäre schön, wenn das Virus die Gehirne aller Verschwörungstheoretiker immunisierte gegen Diskurse, die unserer Zukunft nicht zuträglich sind.

Alles in allem sind Entschleunigung, mehr Sein statt Haben, eine Stärkung des Vertrauens, Glokalisierung und Flexicurity, eine klare Sicht auf die Grenzen der Technik, gepaart mit einem höheren Bewusstsein für unsere Menschlichkeit und eine innere Stärkung unseres Gemeinwesens exzellente Voraussetzungen für unsere Zukunftsfähigkeit. Wir könnten der Natur fast dankbar dafür sein, dass sie uns in unsere Schranken zurückgewiesen hat.

Agil durch die Krise

Schwierige Monate liegen hinter uns – und vielleicht noch viel schwierigere vor uns. Mitte März hat uns Corona aus allen vermeintlichen Sicherheiten herauskatapultiert und bei vielen von uns sitzt der Realitätsschock tief. Wir brauchten Zeit, um uns anzupassen. An manches haben wir uns gewöhnt, an anderes nicht. Wir sehnen das Ende der Einschränkungen herbei.

Krisen wie die aktuelle Pandemie machen uns Menschen bewusst: Wir sind äußerst anpassungsfähige Lebewesen. Obwohl wir veränderungsscheue Gewohnheitstiere sind, bewegen wir uns wirklich, wenn es darauf ankommt. Viele Verantwortungsträger waren überrascht, wie schnell sich zu Beginn des Lockdowns Homeoffice umsetzen ließ und wie gut Mitarbeiter im Homeoffice gearbeitet haben – und das neben der Sorge für die eigene Familie und anderen häuslichen Verpflichtungen. Ist der Veränderungsdruck groß, passiert viel in kurzer Zeit. Dafür sorgt unser Überlebenstrieb.

Warum muss es so weit kommen? Warum sind zukunftsträchtige Formen der Zusammenarbeit wie Homeoffice oder sich selbst organisierende Teams nur schwer möglich? Wie viel ungenutztes Potential schlummert da noch?

Eines ist sicher: Wir Menschen sind soziale Wesen. Unsere außerordentliche Fähigkeit zur Kooperation hat uns dorthin gebracht, wo wir im Moment stehen. Für unser Überleben ist eine schnelle Anpassungsfähigkeit an veränderte Rahmenbedingungen essentiell. Unternehmen organisieren Kooperation, jedes auf seine eigene Art und Weise. Und für alle gilt: Sie müssen flexibel und kreativ agieren – mit anderen Worten agil aufgestellt sein – wenn sie Krisen adäquat begegnen und auch morgen noch mit im Spiel sein wollen.

Dabei bewirkt das bloße Verändern von Prozessen, Strukturen oder Methoden herzlich wenig. Zur Umsetzung von Agilität braucht es bei allen Beteiligten die richtige mentale Einstellung, ein agiles Mindset. Was das für jeden Einzelnen von uns bedeutet, was es Verantwortungsträgern und Mitarbeitern abfordert und welche Möglichkeiten für die Kultur eines Unternehmens darin liegen, lest ihr in meinem neuen Praxishandbuch „30 Minuten agiles Mindset“. Es erscheint am Donnerstag, 22. Oktober 2020 im Gabalverlag.

Zur kostenlosen Leseprobe geht’s hier: https://www.book2look.com/book/9783967390186

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Die Welt nach Corona

Das Corona-Virus verändert unseren Umgang miteinander. Wird soziale Intelligenz am Ende doch künstliche Intelligenz übertrumpfen? Unsere Gesellschaft sortiert sich neu. Umso wichtiger wird ein Leadership, das die großen menschlichen Fragen in den Mittelpunkt stellt.

Die Pandemie hat uns binnen zwei Wochen dazu gezwungen, unsere Vorstellung radikal anzupassen. Was bis gestern unvorstellbar schien, ist heute Realität geworden. Dem öffentlichen Leben ist der Stecker gezogen worden. Die Wirtschaft steht auf standby. Die meisten von uns sind zu Hause und müssen Home-Office, Versorgung der Kinder und Krisenmanagement unter einen Hut bringen… Große Entscheidungen werden gerade im Minutentakt gefällt und vielen von uns dämmert: Die Welt nach Corona wird eine andere sein. Denn die Zukunft biegt gerade im Moment in eine neue Richtung ab.

Die erste Reaktion des Menschen auf unvorhergesehene Ereignisse ist Angst. Die Corona-Pandemie scheint direkt aus einem Horrorfilm entsprungen. Ein archaisches Etwas lehrt uns das Fürchten! Vermutlich übertragen von Fledermausexkrementen auf Wildtiere, die auf einem Markt in Wuhan (China) frisch geschlachtet wurden, und von ihnen auf den Menschen. Was folgte, ist eine exponentielle Reise um die ganze Welt.

Machen wir uns klar, wir Menschen können exponentielles Wachstum nur schwer nachvollziehen. Ein kleines Beispiel: Mit 30 Schritten kommen wir 30 Meter weit. Mit 30 Schritten in Siebenmeilenstiefeln, wobei jeder Schritt uns die doppelte Anzahl an Schritten voranbringt als der vorherige, kommen wir 26-mal um die Welt!

Diese Pandemie verbreitet sich global und exponentiell. Die diffuse und unsichtbare Bedrohung bringt unsere Vorstellung einer scheinbar reibungslos funktionierenden Welt ins Wanken. In westlichen Industriegesellschaften leben wir davon, dass unsere Prozesse auf Kante genäht sind, dass Waren, Personen und Dienstleistungen schrankenlos unterwegs sein können und dass wir in Demokratien mit einer freiheitlich-liberalen Grundordnung leben. Diese Grundannahmen geraten gerade ins Wanken…

Niemand kann sagen, wie lange der Shut Down andauern wird. Plötzlich sollen wir zur Bekämpfung der Krise etwas tun, das wir in unserer schönen, bunten Vorkrisen-Welt schlicht und ergreifend nicht mehr gewohnt waren: Nämlich nichts tun! Diese verordnete und erzwungene Entschleunigung könnte uns schier in den Wahnsinn treiben! Wir sollen uns die Hände waschen anstatt etwas anzupacken? Wir sollen Sozialkontakte reduzieren, anstatt eine Taskforce zu gründen? Wir sollen unsere Mitarbeiter nach Hause schicken, anstatt sie zu managen? Wir selbst sollen runterfahren, mit Besonnenheit und Augenmaß reagieren, wo wir eigentlich agieren wollen?

Wer von uns rebelliert nicht innerlich dagegen? Doch Ängste lassen sich erfolgreich überwinden. Wir kennen das vom Besuch beim Zahnarzt. Die quälenden Minuten im Wartezimmer sind schlimmer als die eigentliche Behandlung selbst. Wir steigern uns so sehr in unsere Ängste hinein, dass sie uns schlimmer überwältigen als der Moment des Kontrollverlustes auf dem Zahnarztstuhl selbst. Ist die Prozedur erst einmal überstanden, wirkt die Welt wieder frisch und wir stecken voller Tatendrang.

Genauso kann auch diese Krise neue Möglichkeitsfenster eröffnen. Sie kann schaffen, was alle Leadership-Seminare, Achtsamkeits-Events, Digitalisierungs- und Disruptions-Summits und Mindfulness-Zirkusse des letzten Jahrzehnts nicht geschafft haben: Sie wirft uns auf uns selbst zurück, uns im stillen Kämmerlein mit uns selbst auseinander zu setzen. Uns dabei den großen Fragen zu widmen. Was können wir wissen, glauben und hoffen? Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?

Die Entscheidungen, die wir jetzt fällen, werden die zukünftige Welt bestimmen. Nicht nur die Entscheidungen im Gesundheitswesen, sondern sämtliche politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entscheidungen.

Unterschiedliche Kulturen gehen mit der Corona-Epidemie unterschiedlich um. China baute auf totale Quarantäne und digitale Überwachung. Eine Reihe von Apps warnte die Bürger vor infizierten Mitmenschen. In Israel soll der Geheimdienst digitale Technologien zur Terrorabwehr zur Überwachung von Infizierten einsetzen. Die rechtlichen Grundlagen dafür wurden per Notfall-Dekret geschaffen. In Frankreich und Spanien wurde die Quarantäne in autoritärem Duktus verordnet und durch das Militär kontrolliert. Südkorea und Taiwan hingegen begegneten der Bedrohung mit intensivem Testen und zählten auf die Ehrlichkeit ihrer Bürger. Amerika fährt eine Abschottungs- und „America first“-Strategie. Die deutsche Kanzlerin setzt zunächst auf Einsicht, Eigenverantwortung und Freiwilligkeit.

Die Strategien im Umgang mit der Angst schwanken zwischen Überwachung und Empowerment, zwischen Druck und Freiwilligkeit, zwischen Isolation und Zusammenarbeit. Was das mit Leadership zu tun hat? Autorität, Überwachung, Isolation und Druck mögen kurzfristig erfolgreich sein. Sie hinterlassen jedoch nachhaltige Spuren, die verheerend sind. Ein Leadership-Mindset hingegen fußt auf einem positiven Menschenbild. Ehrlichkeit, Eigenverantwortung, Freiwilligkeit und Solidarität beruhen auf Vertrauen. Vertrauen entsteht nicht über Nacht, sondern gründet sich auf integrem Verhalten insbesondere der Leader über die Zeit. Vertrauen wird gestärkt in pluralistischen Gemeinschaften, deren Mitglieder sich gegenseitig tolerieren. Vertrauen erfährt Bestätigung in gemeinschaftlichem Handeln.

In Albert Camus großartiger Parabel Die Pest überleben diejenigen, die Solidarität und Menschlichkeit, Mitgefühl und Liebe verkörpern. Wir erleben gerade, dass soziale Intelligenz beim Umgang mit Krisen mindestens ebenso entscheidend ist wie künstliche Intelligenz, wahrscheinlich sogar entscheidender. Menschen sind bereit und fähig, sich persönlich für das Gemeinwohl einzuschränken. (Ein Algorithmus würde eine utilitaristische Entscheidung fällen…) Wir entwickeln plötzlich mehr Wertschätzung für die Dinge, die da sind, anstatt auf das zu gucken, was uns fehlt. Wir erkennen, dass wir nicht alles für selbstverständlich nehmen sollten. Wir lernen beim Nichtstun, dass wir innerlich loslassen können.

Schon jetzt entfaltet dieses Virus eine heilsame Wirkung auf alle Autokraten rund um die Welt. Den Politclowns, Fake-News-Predigern und Verschwörungstheoretikern dieser Welt begegnet die tödliche Realität demnächst direkt vor der eigenen Haustür. Es ist leicht, die Unwahrheit über solch abstrakte Phänomene wie den Klimawandel zu verbreiten. Wenn aber die eigene Familie, Freunde oder Nachbarn schwer erkranken oder gar sterben, lässt sich diese Realität nicht mehr mit einer Extraportion Fox News verleugnen! Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn Donald Trump und mit ihm sämtliche Populisten um den Globus am Corona-Virus scheitern würden.

Es könnte sein, dass dieses Virus am Ende der Menschheit einen großen Dienst erweist… Die Natur weist uns Menschen in unsere Schranken zurück und lehrt uns Demut. Die Menschheit kann jetzt für alle zukünftige Krisen eine Entscheidung darüber fällen, ob wir in Zukunft Spaltung oder globale Solidarität wollen, ob wir unser Schicksal künstlicher oder unserer sozialen Intelligenz überlassen, ob wir Misstrauen säen oder Vertrauen stärken, indem wir mehr im gemeinsamen Belang denken und handeln. Diese Entscheidung liegt bei jedem Einzelnen von uns und vor allem alle Leader sind hierbei besonders gefragt!

P. S.: Kommen Sie gesund und gestärkt durch die Krise!

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Das Paradox vom Purpose

Siemens-Chef Joe Kaeser, Blackrock-CEO Larry Fink, Mercedes-Finanzchef Frank Lindenberg – kaum ein Leader, kaum ein Konzern, der derzeit nicht seinen Sinn (oder neudeutsch „purpose“) definieren möchte… Wie kommt es zur derzeitigen Renaissance des Sinnstiftens? Wie lässt sich Sinn im digitalen Zeitalter erlebbar machen? Und wie kann es Unternehmen gelingen, sich authentisch einem höheren Zweck zu verschreiben?

Die Zukunft schreit nach einer neuen Art der Führung

Wir alle fühlen es intuitiv – die Zeiten von Hierarchie und Autorität, von Motivierung, Vorhersage und Kontrolle sind endgültig vorbei. Nach welcher Art von Führungskultur schreit die Digitalisierung? Was können Konzerne, Mittelständler und Start-ups voneinander lernen? Wie sieht das Leadership der Zukunft aus?

Warum Mindset…?

Wir leben heute in einer postmodernen, globalen und digitalen Welt. Weiterentwicklung vollzieht sich exponentiell und disruptive Technologien verändern stündlich unseren Alltag. Mindset ist die Kernkompetenz, um der Welt von morgen zu begegnen.

Welche Zukunft kommt nach der Digitalisierung?

Ein Plädoyer für die aktive Gestaltung des digitalen Wandels und seiner gesellschaftlichen Folgen

Eine neue Kultur hat in deutschen Unternehmen Einzug gefunden: Vielerorts lassen sich CEOs duzen, die Krawatte ist so gut wie verschwunden und die Kleiderordnung ist kreativ leger. Diese Lockerheit im Umgang miteinander ist erfreulich. Sie steht für eine neue Ära: Dank exponentieller technologischer Entwicklung und Globalisierung sind den Möglichkeiten, neue Produkte, Geschäftsmodelle und Märkte zu schaffen so gut wie keine Grenzen mehr gesetzt.

Die stille Revolution

Neulich fiel mir in einer Pariser Buchhandlung ein Comic mit dem Titel „Les entreprises libérées“ (Die befreiten Unternehmen) in die Hand. Neugierig fing ich an zu blättern und entdeckte, dass es in Frankreich eine Reihe von geschäftsführenden Gesellschaftern gibt, die ihr eigenes Unternehmen befreit haben. Plötzlich organisieren sich Teams autonom, Mitarbeiter legen ihr Gehalts- und Prämiensystem eigenständig fest und Initiative, Kreativität und Innovationen gedeihen. Wie ist das möglich?