Sicherheit in total unsicheren Zeiten?

Eine Pandemie, die niemand vorhergesehen hatte, eine Flutkatastrophe, deren Ausmaß apokalyptisch ist, Waldbrände von verheerender Gewalt… was kommt als Nächstes? In der Bibel kommen bekanntlich nach der Pest die Sintflut und danach die Heuschreckenplage! Worauf uns also vorbereiten? Wie mit solch drastischen Veränderungen umgehen? Wo Sicherheit finden in höchst unsicheren Zeiten?

Orientierung im Chaos

Es scheint die Quadratur des Kreises zu sein, besonders für alle Leader und Führungskräfte unter uns. Wir müssen Antworten auf Fragen geben, die momentan nicht zu beantworten sind. Wir müssen Prozesse steuern, deren Ziel wir zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich kennen können. Wir müssen planen, ohne Planungssicherheit zu haben. Und bei alldem sollen wir Sicherheit vermitteln, ohne selbst Sicherheit zu haben!

Lehren aus der Historie

Im August war ich in Florenz unterwegs und dort hatte ein Taxifahrer auf seinen Wagen den Spruch geschrieben: „Wir haben die Pest überlebt, wir werden auch Corona überleben.“ Ich musste schmunzeln. Zweckoptimismus in einer Stadt, die zu Recht als die Wiege der neuzeitlichen Menschenwürde gilt. Hoppla, Menschenwürde? Da war doch etwas!

Auch die Renaissance war ein Zeitalter dramatischer Veränderungen. Die Menschen wandten sich nach langen Jahrhunderten neuen Horizonten zu. Kontinente wurden entdeckt, das ptolemäische Weltbild geriet ins Wanken, der Buchdruck wurde erfunden, die Lehrmeinung der katholischen Kirche stand plötzlich in Frage und vor allem besannen sich die Menschen wieder auf die eigenen Stärken, anstatt sich ihre Lebensführung diktieren zu lassen.

Pico della Mirandola schreibt in seiner Schrift Über die Würde des Menschen (1486) Gott habe den Menschen in die Mitte der Welt gestellt, ohne festen Wohnsitz, auf dass er sich seinen Platz selbst bestimme: „Du sollst dir deine Natur ohne jede Einschränkung, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.“ Anders als die Tiere, hätte der Mensch keinen festen Platz in der Natur. Allein der Mensch sei frei.

Der Umgang mit Veränderungen

Freiheit und Selbstbestimmung? Sind dies nicht jene zentralen Werte, die auch heute noch in jeder zweiten Keynote zur Persönlichkeitsentwicklung vorkommen? Doch wie können wir Freiheit und Selbstbestimmung erlangen in einer Welt, die dem permanenten Wandel unterworfen ist? Wie können und sollen uns diese Werte beim Umgang mit Veränderungen, mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität unterstützen?

Wenn wir uns mit drastischen Veränderungen konfrontiert sehen, dann kommt es vor allem darauf an, wie wir damit umgehen. Oder in den Worten des Stoikers Epiktet: „Nicht die Verhältnisse an sich sind schwierig, sondern unsere Meinung und unsere Urteile über die Verhältnisse.“ In der bewussten Wahl des Umgangs mit den Verhältnissen liegt unsere Freiheit, Selbstbestimmung und damit unsere Menschenwürde. Diese in ihrer schlichten Formulierung anmutige Erkenntnis ist so einfach wie gleichzeitig verdammt schwer umzusetzen, gerade wenn Krisen über uns hinwegschwappen!

Die Kehrseite der Digitalisierung

Beim Entwickeln von heiterer Gelassenheit steht uns heute ausgerechnet jene Technologie im Wege, die eigentlich verspricht, alles einfacher zu machen. Denn seit der Einführung des Smartphones sitzt die Menschheit einem neuen, modernen Mythos auf, dessen Narrativ so lauten könnte: Und es begab sich, dass Steve Jobs diese Wundermaschine einführte, die zum digitalen göttlichen Zeigefinger für die Menschheit wurde. Fortan waren die Menschen allmächtig, hatten in Echtzeit das Weltwissen zu Hand und konnten von überall aus ihre Geschicke und Geschäfte selbständig lenken, Prozesse überwachen, Ideen entwickeln oder neue Partner finden…

Doch diesem Gefühl der digitalen Allmacht steht im „richtigen“ Leben ein Gefühl der analogen Ohnmacht entgegen. Denn im „richtigen“ Leben haben wir es mit Kindern zu tun, die nicht gehorchen, mit Partnern, die unsere Erwartungen nicht erfüllen, mit Mitarbeitern, die in der VUKA-Welt überfordert sind, mit Kollegen, die nicht tun, was sie sollen, mit Chefs, die alles vorgeben und mit Kunden, die ungeduldig und verwöhnt sind. Mit anderen Worten, mit Dingen, die wir genauso wenig kontrollieren können wie Naturkatastrophen oder Viren!

Und schon tritt die Diskrepanz zur vermeintlichen digitalen Allmacht eklatant zu Tage, dieses Spannungsfeld droht uns zu zerreißen. Darüber hinaus übersehen wir in der schönen neuen Welt der digitalen gratis Dienstleistungen, dass wir fremdbestimmt werden. Das Smartphone hat sich zum digitalen Schnuller für die meisten von uns entwickelt, nach dem wir unbewusst greifen, wenn wir nicht weiter wissen, weil die Dinge anders kommen als gedacht oder unsere lieben Mitmenschen so „dreist“ sind, unsere Erwartungen nicht zu erfüllen.

Unser Menschsein ist gefragt

Wenn es um den Umgang mit Veränderungen, mit unvorhergesehenen Situationen, mit unerwarteten Entwicklungen oder einfach mit Überraschungen geht, sind wir als Menschen gefragt. In solchen Situationen hilft uns nicht weiter, was wir HABEN oder DARSTELLEN, sondern ausschließlich das, was wir SIND. Oder in den Worten Schopenhauers: „Was einer an sich selber hat, ist zu seinem Lebensglücke das Wesentliche.“ Es kommt also auf unseren Charakter und unsere Persönlichkeit an, die im Idealfall von einer produktiven und lebensbejahenden Einstellung zeugen, die sich glaubhaft in unserem Umgang und unserer Kommunikation mit anderen ausdrückt.

Mentale Stärke und Einstellung lassen sich nicht durch Surfen im Netz oder Abhängen in den sozialen Medien bilden. Sondern in Zeiten der Achtsamkeit, des Fokus und der Reflexion. Für uns Leader heißt das, wir müssen im digitalen Zeitalter mehr denn je mit unserem innersten Kern, mit unserer Intuition in Verbindung sein, wenn wir in kritischen Situationen ruhig, besonnen und mit situativer Intelligenz agieren wollen. Dann gelingt es uns, auch in höchst unsicheren Zeiten Sicherheit auszustrahlen. Wir entfalten natürliche Autorität und werden zum Vorbild, dem Menschen aus einer inneren Motivation heraus folgen, weil wir Menschenwürde verkörpern, so wie der David des Michelangelo.