Doomscrolling – Negatives bis zur Verdammnis

Mit dem furchtbaren Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sind einmal mehr menschliches Leid, Terror und Verhängnis in unseren Fokus gerückt. Wir scrollen uns bis zum Abwinken durch die negativen Schlagzeilen unseres Handys. Wir kommen nicht los vom Fluss schlechter Nachrichten. Warum bloß tun wir uns das an? Welche Folgen hat das für unsere mentale Gesundheit? Was sind Alternativen zum Konsum schlechter Nachrichten, bis der Arzt kommt?

Blättern bis zur Verdammnis

„Doomscrolling“ bezeichnet dieses beinahe schon zwanghafte Verhalten, zu Deutsch „Verhängnisblättern“. Wir scrollen uns durch die Bad News bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. In der Corona-Krise können wir nicht genug bekommen von aktuellen Inzidenzzahlen und weltweiten Schreckensszenarien. Im Ukraine-Krieg läuft bei vielen auf dem Bildschirm nebenher der Newsticker, um uns mit den aktuellen Horrormeldungen zu versorgen.

Unser Gehirn wird zum negativen Perpetuum mobile

Doch warum tun wir das? Warum füttern wir uns freiwillig mit mehr und mehr schlechten Nachrichten? Die Erklärung hierfür liegt in der Funktionsweise unseres Gehirns. Wir nehmen negative Nachrichten schneller auf als positive. Unser Stammhirn, das eine direkte Verbindung zum vegetativen Nervensystem hat, fokussiert sich auf die negative Abweichung. Das automatische System scannt unentwegt unsere Umgebung nach möglichen Gefahren. Dieser Mechanismus stammt noch aus der Steinzeit, wo eine verpasste negative Information potentiell das Letzte sein konnte, was wir überhaupt wahrnahmen.

Was damals unserem Überleben diente, steht uns heute oftmals im Wege. Zumal im digitalen Zeitalter die Algorithmen der Suchportale, sozialen Netzwerke oder Medienseiten gekonnt dafür sorgen, dass wir immer mehr Nachschub von zuvor gesuchten – häufig negativen – Informationen bekommen, die dann auch noch in Echtzeit verfügbar sind. So wird die Negativspirale zum Perpetuum Mobile. 

Sich selbst verstärkende Negativität

Wir kennen diesen Negativitätsbias vom Umgang mit anderen Menschen. Hat einmal jemand etwas Negatives gesagt oder getan, uns verletzt oder grob enttäuscht, sind wir geneigt, diesem Menschen nur noch negative Eigenschaften zuzuschreiben. Das tun wir solange höchst gekonnt, bis wir selbst der festen Überzeugung sind, dass dieser Mensch tatsächlich etwas im Schilde führt oder von Natur aus böse ist.

In der Timeline der Sozialen Medien sorgt der Negativitätsbias paradoxerweise für das Gegenteil dessen, was wir eigentlich suchen: Wir suchen nach Informationen, die uns beruhigen und schützen sollen, uns in Wahrheit aber beunruhigen. So lügt sich unser Gehirn selbst in die Tasche. Angst, Unsicherheit und Zweifel sind die Folgen. Oder eben eine Spirale aus negativen Gefühlen, die nicht selten in Depressionen endet.

Raus aus dem Zwang!

Was ist dagegen zu tun?

Erstens, in Krisenzeiten sollten wir uns auf das fokussieren, was wir tatsächlich verändern können. Bezogen auf den Krieg in der Ukraine heißt das: Wenn wir auch nicht aktiv ins Geschehen eingreifen können oder wollen (Wer von uns macht sich zum Kämpfen auf in die Ukraine?), so können wir dennoch etwas tun. Ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, Spenden sammeln oder Hilfsgüter-Transporte organisieren. Agieren ist allemal besser, als tatenlos schlechte Nachrichten zu konsumieren.

Zweitens, elektronische Geräte kann man abschalten. Legen wir also ganz bewusst eine mediale Pause ein oder definieren wir vorher Zeitrahmen für das Konsumieren von (schlechten) Nachrichten. Eine digitale Detox bewirkt Wunder.

Drittens, suchen wir stattdessen lieber das Gespräch und den Austausch mit echten Menschen, um zu verarbeiten, was uns bewegt. Positive Emotionen wie Wärme und Mitgefühl benötigen den direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Das ist für unsere mentale Gesundheit definitiv besser, als sich allein im stillen Kämmerchen ins Verderben zu scrollen!

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Sicherheit in total unsicheren Zeiten?

Eine Pandemie, die niemand vorhergesehen hatte, eine Flutkatastrophe, deren Ausmaß apokalyptisch ist, Waldbrände von verheerender Gewalt… was kommt als Nächstes? In der Bibel kommen bekanntlich nach der Pest die Sintflut und danach die Heuschreckenplage! Worauf uns also vorbereiten? Wie mit solch drastischen Veränderungen umgehen? Wo Sicherheit finden in höchst unsicheren Zeiten?

Orientierung im Chaos

Es scheint die Quadratur des Kreises zu sein, besonders für alle Leader und Führungskräfte unter uns. Wir müssen Antworten auf Fragen geben, die momentan nicht zu beantworten sind. Wir müssen Prozesse steuern, deren Ziel wir zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich kennen können. Wir müssen planen, ohne Planungssicherheit zu haben. Und bei alldem sollen wir Sicherheit vermitteln, ohne selbst Sicherheit zu haben!

Lehren aus der Historie

Im August war ich in Florenz unterwegs und dort hatte ein Taxifahrer auf seinen Wagen den Spruch geschrieben: „Wir haben die Pest überlebt, wir werden auch Corona überleben.“ Ich musste schmunzeln. Zweckoptimismus in einer Stadt, die zu Recht als die Wiege der neuzeitlichen Menschenwürde gilt. Hoppla, Menschenwürde? Da war doch etwas!

Auch die Renaissance war ein Zeitalter dramatischer Veränderungen. Die Menschen wandten sich nach langen Jahrhunderten neuen Horizonten zu. Kontinente wurden entdeckt, das ptolemäische Weltbild geriet ins Wanken, der Buchdruck wurde erfunden, die Lehrmeinung der katholischen Kirche stand plötzlich in Frage und vor allem besannen sich die Menschen wieder auf die eigenen Stärken, anstatt sich ihre Lebensführung diktieren zu lassen.

Pico della Mirandola schreibt in seiner Schrift Über die Würde des Menschen (1486) Gott habe den Menschen in die Mitte der Welt gestellt, ohne festen Wohnsitz, auf dass er sich seinen Platz selbst bestimme: „Du sollst dir deine Natur ohne jede Einschränkung, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.“ Anders als die Tiere, hätte der Mensch keinen festen Platz in der Natur. Allein der Mensch sei frei.

Der Umgang mit Veränderungen

Freiheit und Selbstbestimmung? Sind dies nicht jene zentralen Werte, die auch heute noch in jeder zweiten Keynote zur Persönlichkeitsentwicklung vorkommen? Doch wie können wir Freiheit und Selbstbestimmung erlangen in einer Welt, die dem permanenten Wandel unterworfen ist? Wie können und sollen uns diese Werte beim Umgang mit Veränderungen, mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität unterstützen?

Wenn wir uns mit drastischen Veränderungen konfrontiert sehen, dann kommt es vor allem darauf an, wie wir damit umgehen. Oder in den Worten des Stoikers Epiktet: „Nicht die Verhältnisse an sich sind schwierig, sondern unsere Meinung und unsere Urteile über die Verhältnisse.“ In der bewussten Wahl des Umgangs mit den Verhältnissen liegt unsere Freiheit, Selbstbestimmung und damit unsere Menschenwürde. Diese in ihrer schlichten Formulierung anmutige Erkenntnis ist so einfach wie gleichzeitig verdammt schwer umzusetzen, gerade wenn Krisen über uns hinwegschwappen!

Die Kehrseite der Digitalisierung

Beim Entwickeln von heiterer Gelassenheit steht uns heute ausgerechnet jene Technologie im Wege, die eigentlich verspricht, alles einfacher zu machen. Denn seit der Einführung des Smartphones sitzt die Menschheit einem neuen, modernen Mythos auf, dessen Narrativ so lauten könnte: Und es begab sich, dass Steve Jobs diese Wundermaschine einführte, die zum digitalen göttlichen Zeigefinger für die Menschheit wurde. Fortan waren die Menschen allmächtig, hatten in Echtzeit das Weltwissen zu Hand und konnten von überall aus ihre Geschicke und Geschäfte selbständig lenken, Prozesse überwachen, Ideen entwickeln oder neue Partner finden…

Doch diesem Gefühl der digitalen Allmacht steht im „richtigen“ Leben ein Gefühl der analogen Ohnmacht entgegen. Denn im „richtigen“ Leben haben wir es mit Kindern zu tun, die nicht gehorchen, mit Partnern, die unsere Erwartungen nicht erfüllen, mit Mitarbeitern, die in der VUKA-Welt überfordert sind, mit Kollegen, die nicht tun, was sie sollen, mit Chefs, die alles vorgeben und mit Kunden, die ungeduldig und verwöhnt sind. Mit anderen Worten, mit Dingen, die wir genauso wenig kontrollieren können wie Naturkatastrophen oder Viren!

Und schon tritt die Diskrepanz zur vermeintlichen digitalen Allmacht eklatant zu Tage, dieses Spannungsfeld droht uns zu zerreißen. Darüber hinaus übersehen wir in der schönen neuen Welt der digitalen gratis Dienstleistungen, dass wir fremdbestimmt werden. Das Smartphone hat sich zum digitalen Schnuller für die meisten von uns entwickelt, nach dem wir unbewusst greifen, wenn wir nicht weiter wissen, weil die Dinge anders kommen als gedacht oder unsere lieben Mitmenschen so „dreist“ sind, unsere Erwartungen nicht zu erfüllen.

Unser Menschsein ist gefragt

Wenn es um den Umgang mit Veränderungen, mit unvorhergesehenen Situationen, mit unerwarteten Entwicklungen oder einfach mit Überraschungen geht, sind wir als Menschen gefragt. In solchen Situationen hilft uns nicht weiter, was wir HABEN oder DARSTELLEN, sondern ausschließlich das, was wir SIND. Oder in den Worten Schopenhauers: „Was einer an sich selber hat, ist zu seinem Lebensglücke das Wesentliche.“ Es kommt also auf unseren Charakter und unsere Persönlichkeit an, die im Idealfall von einer produktiven und lebensbejahenden Einstellung zeugen, die sich glaubhaft in unserem Umgang und unserer Kommunikation mit anderen ausdrückt.

Mentale Stärke und Einstellung lassen sich nicht durch Surfen im Netz oder Abhängen in den sozialen Medien bilden. Sondern in Zeiten der Achtsamkeit, des Fokus und der Reflexion. Für uns Leader heißt das, wir müssen im digitalen Zeitalter mehr denn je mit unserem innersten Kern, mit unserer Intuition in Verbindung sein, wenn wir in kritischen Situationen ruhig, besonnen und mit situativer Intelligenz agieren wollen. Dann gelingt es uns, auch in höchst unsicheren Zeiten Sicherheit auszustrahlen. Wir entfalten natürliche Autorität und werden zum Vorbild, dem Menschen aus einer inneren Motivation heraus folgen, weil wir Menschenwürde verkörpern, so wie der David des Michelangelo.

Agil durch die Krise

Schwierige Monate liegen hinter uns – und vielleicht noch viel schwierigere vor uns. Mitte März hat uns Corona aus allen vermeintlichen Sicherheiten herauskatapultiert und bei vielen von uns sitzt der Realitätsschock tief. Wir brauchten Zeit, um uns anzupassen. An manches haben wir uns gewöhnt, an anderes nicht. Wir sehnen das Ende der Einschränkungen herbei.

Krisen wie die aktuelle Pandemie machen uns Menschen bewusst: Wir sind äußerst anpassungsfähige Lebewesen. Obwohl wir veränderungsscheue Gewohnheitstiere sind, bewegen wir uns wirklich, wenn es darauf ankommt. Viele Verantwortungsträger waren überrascht, wie schnell sich zu Beginn des Lockdowns Homeoffice umsetzen ließ und wie gut Mitarbeiter im Homeoffice gearbeitet haben – und das neben der Sorge für die eigene Familie und anderen häuslichen Verpflichtungen. Ist der Veränderungsdruck groß, passiert viel in kurzer Zeit. Dafür sorgt unser Überlebenstrieb.

Warum muss es so weit kommen? Warum sind zukunftsträchtige Formen der Zusammenarbeit wie Homeoffice oder sich selbst organisierende Teams nur schwer möglich? Wie viel ungenutztes Potential schlummert da noch?

Eines ist sicher: Wir Menschen sind soziale Wesen. Unsere außerordentliche Fähigkeit zur Kooperation hat uns dorthin gebracht, wo wir im Moment stehen. Für unser Überleben ist eine schnelle Anpassungsfähigkeit an veränderte Rahmenbedingungen essentiell. Unternehmen organisieren Kooperation, jedes auf seine eigene Art und Weise. Und für alle gilt: Sie müssen flexibel und kreativ agieren – mit anderen Worten agil aufgestellt sein – wenn sie Krisen adäquat begegnen und auch morgen noch mit im Spiel sein wollen.

Dabei bewirkt das bloße Verändern von Prozessen, Strukturen oder Methoden herzlich wenig. Zur Umsetzung von Agilität braucht es bei allen Beteiligten die richtige mentale Einstellung, ein agiles Mindset. Was das für jeden Einzelnen von uns bedeutet, was es Verantwortungsträgern und Mitarbeitern abfordert und welche Möglichkeiten für die Kultur eines Unternehmens darin liegen, lest ihr in meinem neuen Praxishandbuch „30 Minuten agiles Mindset“. Es erscheint am Donnerstag, 22. Oktober 2020 im Gabalverlag.

Zur kostenlosen Leseprobe geht’s hier: https://www.book2look.com/book/9783967390186

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