Wir alle fühlen es intuitiv – die Zeiten von Hierarchie und Autorität, von Motivierung, Vorhersage und Kontrolle sind endgültig vorbei. Nach welcher Art von Führungskultur schreit die Digitalisierung? Was können Konzerne, Mittelständler und Start-ups voneinander lernen? Wie sieht das Leadership der Zukunft aus?

Ich persönlich berate seit über 15 Jahren Unternehmen und deren Leader in der Weiterentwicklung. Heute ist die vorrangige Aufgabe im Leadership, die Einstellung zum Wandel zu meistern. Die exponentielle technologische Entwicklung, die Digitalisierung und die Innovationen im Bereich Künstlicher Intelligenz führen dazu, dass Veränderungen immer schneller passieren. Herausragende Führung muss Menschen inmitten dieses rapiden Wandels Orientierung geben, ohne selbst genau wissen zu können, wohin es geht. Es gilt Fragen zu beantworten, die keine eindeutige Antwort erlauben, und Prozesse zu lenken, deren eindeutiges Ziel nicht feststeht. Dafür ist es notwendig, Rahmen zu sprengen, ohne seine Wurzeln zu verleugnen. Das gleicht der Quadratur des Kreises! Um diese zu bewältigen müssen sich wahre Leader von einigen ausgedienten Paradigmen der Vergangenheit trennen. Welche sind das?

Industriezeitalter: Führen durch Macht

Im beginnenden Industriezeitalter waren Mitarbeiter gefragt, pünktlich zu erscheinen, verlässlich ihre Aufgaben zu erfüllen, sich dabei möglichst wenig auszutauschen und nicht mitzudenken. Hierauf war Führung ausgerichtet. Autorität entstand durch Macht und Position, autoritärer Duktus, rigide Vorgaben, Kontrolle voller Misstrauen und Androhung von negativen Konsequenzen bei Nichtbeachtung waren deren Ausdruck. Was säte dieser Führungsstil? Angst – den schlechtesten aller Ratgeber.

Wissensgesellschaft: Führen durch Beeinflussen

Spätestens seit den 80er Jahren dann hatte sich herumgesprochen, dass Führen ohne emotionale Intelligenz kaum Chancen auf Erfolg hat: Nicht mehr die fleißigsten Hände, sondern die klügsten Köpfe waren jetzt gefragt. Und diese sollten mitgenommen werden. Also beeinflusste man, was das Zeug hielt. Der Manager wurde zum Motivator – manchmal auch zum Manipulator – , der den Mitarbeiter darin coachte, seine Einstellungen, sein Denken und Handeln mit den Unternehmenszielen in Übereinstimmung zu bringen. Was war der Haken daran? Den innersten Kern ihrer Mitarbeiter erreichten die meisten Manager so nicht und sobald es mal nicht lief wie gewünscht, verfielen sie dann ins autoritäre „Basta!“ – frei nach Gerhard Schröder.

Wie lässt es sich besser machen?

Die Ausgangslage drängt: Das Internet und Social Media haben eine schnelle, weltweite Vernetzung von Gleichgesinnten geschaffen. Blitzschnell entstehen neue Märkte jenseits traditioneller Absatzkanäle. Quergedachte Geschäftsmodelle disruptieren traditionelle Player innerhalb eines Augenaufschlags. Paradoxerweise führen diese digitalen Neuerungen zur Renaissance analoger Werte im persönlichen Umgang miteinander. Immer mehr Menschen sehnen sich nach Authentizität, Sicherheit und zwischenmenschlicher Wärme im direkten Kontakt. Herzlich Willkommen im Zeitalter des Führens durch Reputation!

Digitalzeitalter: Führen durch Reputation

Autorität beruht heute nicht mehr auf Macht, sondern auf gelebter Vorbildfunktion. Der Leader von morgen spricht nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen seiner Mitarbeiter an. Er ermöglicht, statt alles zu wissen. Er kennt Lösungen nicht selbst, sondern trägt Verantwortung für den Prozess der Lösungsfindung. Echtes Interesse, die Fähigkeit zuzuhören und Neugierde auf die Vorstellungen anderer sind hierbei gefragt. Demut wird zur wichtigsten Tugend abseits von allen Positionen und Hierarchien. So wird der innerste Kern aller Mitarbeiter erreicht und soziale Dichte entsteht. Vertrauen ersetzt Misstrauen oder gar Mikromanagement. Aufrichtigkeit und Integrität werden wichtiger als wasserdichte Prozesse und perfekte Kennzahlen.

Und plötzlich finden sich Mitarbeiter in einer Welt wieder, in der sie sich tatsächlich verwirklichen können, in der Querdenken gefragt und Weiterentwicklung selbstverständlich ist. In der sich alle jenseits traditioneller Hierarchien mit dem Unternehmenszweck identifizieren können. In einer Welt, in der jeder Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative entwickeln darf und sollte. In der Motivation von Innen herauskommt, weil Sog erzeugt wird anstatt Druck.

Das ist die Welt der Geschäftsmodelle und Produktinnovationen, die die Kunden von morgen begeistern. Es gibt sie bereits, die Unternehmen, die diese Art von Kultur leben. Trivago (Hotelsuche…?) ist eines von wenigen deutschen Unicorns und ein lebendiges, agiles System. Hier werden Entscheidungen in voneinander unabhängigen Teams getroffen, die jeweils nahe genug an allen relevanten Informationen dran sind. So entsteht Reputation als natürliche Autorität. Eine extrem hohe Lerngeschwindigkeit ist sichergestellt, die ein wichtiger Wettbewerbsvorteil in Zeiten des schnellen Wandels ist. Oder Viessmann, das deutsche Familienunternehmen, das sich vom Heizungshersteller zum Lösungsanbieter für seine Kunden wandelt. Das nahbare Traditionsunternehmen nutzt dabei klug die Chancen der Digitalisierung, ohne seine Wurzeln aufzugeben.

Hier wie dort ist die Unternehmenskultur fest verankert im Unternehmenszweck, der auf das große Ganze ausgerichtet ist. Dies ermöglicht eine Führungskultur, die auf Offenheit, Transparenz und Integrität beruht. Und schon Peter Drucker wusste „Culture eats strategy for breakfast”.

Bild © pixbay

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