Neulich fiel mir in einer Pariser Buchhandlung ein Comic mit dem Titel „Les entreprises libérées“ (Die befreiten Unternehmen) in die Hand. Neugierig fing ich an zu blättern und entdeckte, dass es in Frankreich eine Reihe von geschäftsführenden Gesellschaftern gibt, die ihr eigenes Unternehmen befreit haben. Plötzlich organisieren sich Teams autonom, Mitarbeiter legen ihr Gehalts- und Prämiensystem eigenständig fest und Initiative, Kreativität und Innovationen gedeihen. Wie ist das möglich?

Das befreite Unternehmen

Die Leader dieser Unternehmen transformieren sich selbst, ihre Einstellung und die Struktur ihrer Organisationen radikal, um die allgemeinen Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter besser zu erfüllen. Sie sind davon überzeugt, dass der Mensch Vertrauen verdient. Und dass ihre Mitarbeiter bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie sich selbst führen. Der oberste Zweck ihrer Unternehmen ist es, die Menschen glücklich zu machen. In Frankreich findet derzeit eine stille Revolution statt, deren Ergebnis ein neuer Sozialvertrag sein könnte, der in aller Freiheit und Menschlichkeit von Eigentümern und Belegschaft gemeinsam erarbeitet wird. Wie das erreicht werden kann?

Es gibt natürlich kein Patentrezept. Jean-François Zobrist war langjähriger Geschäftsführer von Favi, einem Hersteller für Getriebegabeln für die Automobilindustrie. Er befreite das Unternehmen bereits in den 80er Jahren und gibt möglichen Epigonen folgenden Rat: „Qu’ils se démerdent!“ Die Etikette verbietet mir, dies wortwörtlich zu übersetzen, es bedeutet so viel wie: „Wurschteln Sie sich durch!“. Alexandre Gérard zum Beispiel, Eigentümer und Geschäftsführer von Chronoflex, einem Service-Unternehmen für Industrie-Hydraulik-Anlagen, fasste eine deutliche Entscheidung: Nachdem er seiner Belegschaft die Befreiung kommuniziert und eine neue Struktur implementiert hatte, ging er mit seiner Familie für ein Jahr auf Weltreise! Die Belohnung für diesen radikalen Schritt? Chronoflex hat seine Krise erfolgreich bewältigt und ist heute so rentabel wie nie zuvor in seiner Geschichte.

Auf die Leader kommt es an

Natürlich kommt der Figur des befreienden Leaders eine Schlüsselrolle zu. Er muss sein eigenes Ego zurückstellen. Au revoir sagen zu Statussymbolen wie Dienstwagen, dem größten Büro, der Krawatte oder dem Privatparkplatz. Sonst ist er nicht glaubwürdig. Doch neben dem äußeren Anstrich ist vor allem die innere Geisteshaltung entscheidend. Wer wirklich Verantwortung an seine Mannschaft übergeben möchte, wird dem althergebrachten System von Vorhersage und Kontrolle, von Zwang, Bedrohung und Angst eine klare Absage erteilen müssen. Hierbei sind eine flache Hierarchie oder eine Organisation in Teams und Netzwerken förderlich. Es gilt, wirklich loszulassen. Denn die Transformation vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Oftmals stoßen die Leader Prozesse an, deren genaues Ziel sie zu Beginn noch gar nicht genau kennen können.

Seine eigene Rolle neu erfinden

Welche Aufgaben bleiben für das Top-Management? Befreiung lässt sich nicht vorschreiben, vielmehr wird der Gesellschafter oder Geschäftsführer zum Behüter einer neuen Kultur. Er sorgt dafür, dass die gemeinsame Vision dank schlagkräftiger Teams umgesetzt werden kann. Hierfür sind eine inspirierende Umgebung und eine Atmosphäre der Freude notwendig: Die Beispiele reichen von Telearbeit, über Open Work Spaces bis hin zu Urban Gardening auf dem Dach des Bürogebäudes. Menschen arbeiten nun einmal besser, wenn sie glücklich sind. Und die Führungsmannschaft? Die Manager stehen vor der Herausforderung, sich selbst neu zu erfinden. Nicht alle kommen damit gleich gut zurecht. Wo Mitarbeiter sich selbst führen, braucht es keine Führungskraft im klassischen Sinne mehr. Der Manager wird zum Mentor, Koordinator, Primus inter pares. Er verfolgt das „warum?“, nicht mehr das „wie?“. Manchen Führungskräften gefällt dieser Wandel nicht und sie verlassen das Unternehmen. Andere sind dankbar für die Chance, ihre Rolle neu zu denken. So wird die HR-Direktorin zum „Chief Happiness Officer“ oder der langjährige Linienführer zum „Gandalf für seine Kollegen“.

Freiheit als Basis für ökonomischen Erfolg

Der Weg zu einem befreiten Unternehmen und damit zu einer sich selbst führenden Organisation braucht Zeit. Diejenigen Unternehmen, die sich dieses Zeit nehmen und eine freiheitliche Kultur der Zusammenarbeit realisieren, sind überdurchschnittlich erfolgreich. Die Beispiele reichen von Gore-Tex über Harley Davidson hin zu Familien- und Industrieunternehmen, dem Belgischen Sozialministerium und Start-ups. In jüngster Zeit wagen sich auch Konzerne wie Michelin oder Décathlon an den Weg in die Befreiung oder „Responsabilisation“ (In die Verantwortung nehmen). Es kommt auf die Einstellung der Leader, Manager und Mitarbeiter an, damit dieser Weg gelingen kann. Welches Mindset ist also notwendig, um ein Unternehmen zu befreien?

Es braucht Großzügigkeit im Denken, die Bereitschaft loszulassen und sich aus eingefahrenen Denkmustern zu befreien. Hilfreich sind ein unprätentiöses Auftreten und ein unkompliziertes Verhältnis zur eigenen Position oder Rolle. Bei allen Menschen ist die Bereitschaft zur Übernehme von Verantwortung, Eigeninitiative und Wille zur Selbstbestimmung gefragt. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip: Die Probleme werden eigenverantwortlich dort geregelt, wo sie entstehen. Herrscht diese Geisteshaltung vor, wird ein befreites Unternehmen zum sich selbst organisierenden System: Alle diejenigen, die die Freiheit missbrauchen wollen, schließen sich selbst aus und verlassen das Unternehmen.

Uns selbst und unsere Unternehmen befreien? Es beginnt in unseren eigenen Herzen und Köpfen!

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Bild: ©pixabay

 

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